Moria: Nach dem Brand
Das vollkommen überbelegte Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist zu großen Teilen abgebrannt. Mit einem Schlag sind Tausende geflüchtete Menschen obdachlos und die ohnehin angespannte Situation verschärft sich.
Die NGO Stand By Me Lesvos bietet Flüchtlingen auf Lesbos Bildungsmöglichkeiten an und unterstützt auch kleinere, selbstorganisierte Projekte, wie die Müllentsorgung im Lager Moria, ein Corona Awareness Team, die Moria White Helmets und Lerngruppen.
Thomas von der Osten-Sacken ist Geschäftsführer der deutsch-irakischen Entwicklungsorganisation Wadi e.V., Nahost-Experte und Journalist. Seit einigen Monaten berät er die NGO Stand By Me Lesvos auf Lesbos.
Er schildert die angespannte Lage, die bereits seit Monaten herrscht, was in der Brandnacht von Dienstag auf Mittwoch passiert ist und warum seiner Meinung nach die EU für den Brand verantwortlich ist.
FM4: Was ging diesem Brand voraus und wie kann man sich die bisherigen Zustände im Lager Moria vorstellen?
Thomas von der Osten-Sacken: Man kann sie sich eigentlich nicht vorstellen. Im März und April waren hier 21.000 Menschen in einer Einrichtung, die eigentlich für 1.800 gedacht gewesen ist, zusammengepfercht. In Campingzelten oder irgendwelchen provisorischen Unterkünften, verteilt über einen Olivenhain, ohne ausreichend fließend Wasser, ohne ausreichend Toiletten, ohne Strom, ohne Sicherheit – in etwa, was wir eigentlich einen Zelt-Slum nennen.
Zu dieser eh schon katastrophalen Situation kam dann ab März diese dauerhafte latente Bedrohung des Coronavirus dazu. Ende März, Anfang April gab es die ersten Fälle von Covid-19 auf Lesbos. Damals ist es geglückt, das aus dem Camp rauszuhalten.
Das Camp ist aber de facto seit sechs Monaten im Lockdown. Die Leute können sich nicht mehr frei bewegen. Auf der Insel gibt es 116 Fälle und das Krankenhaus [in Mytilini, der Hauptsadt von Lesbos] ist am absoluten Limit. Die Coronavirus-Pandemie ist übergesprungen auf das Camp. Das hat die Situation nochmal verschlimmert. Die Leute hatten Angst und Panik davor, was jetzt passiert. Das ist die Vorgeschichte.
Wir wussten alle: Diese Situation führt früher oder später zu einer Katastrophe, das wird explodieren.
Wir haben immer davor gewarnt, die ganzen letzten Monate, und jetzt ist es zu einer Katastrophe gekommen.
Kann man sagen, was genau passiert ist? Wie kam es zu den Bränden?
Der Vorlauf war die Pandemie. Auch gestern sind 35 neue Fälle unter Flüchtlingen getestet worden. Das führte natürlich zu Angst und Unsicherheit im Camp und zu einer provisorischen Isolationseinrichtung innerhalb dieses Lagers. Aber es ist fast unmöglich, da von Isolation zu sprechen. Die Leute liegen praktisch aufeinander, es stehen jeden Tag 5.000 in einer Schlange zur Essensausgabe. Es gibt Fälle, die sollten isoliert werden. Aber die Art und Weise, wie das kommuniziert worden ist, war ein bisschen unglücklich.
Es kamen Leute die [den Lagerbewohnern] sagten: „Ihr müsst jetzt in Quarantäne“, obwohl sie symptomfrei gewesen sind. Das hat den Unmut gesteigert und dann kam es zu Demonstrationen gegen diese Isolationseinrichtung. Leute sind aus der Einrichtung ausgebrochen, und das war der Trigger für weitere Demonstrationen, Unruhen. Dann plötzlich brachen an verschiedenen Stellen des Camps fast gleichzeitig Feuer aus.
Es hat immer wieder Feuer im Camp gegeben – vermutlich Brandstiftung, man weiß nicht genau von wem. Nur, die konnten immer gelöscht werden, weil sie an einer oder vielleicht zwei Stellen ausgebrochen waren. Gestern war es plötzlich an unterschiedlichsten Stellen. Leute haben versucht, die zentrale Aufnahmestelle im Camp zu stürmen, Leute aus dem Abschiebegefängnis zu befreien. Dann geriet die Lage komplett außer Kontrolle und das Ganze verwandelte sich in einen Flächenbrand.
Wortwörtlich. In Videos auf Twitter und anderen sozialen Netzwerken hat man die chaotischen Zustände sehen können. Was haben Sie gestern beobachtet oder mitbekommen?
Ein paar unserer Mitarbeiter – Flüchtlinge, die im Camp leben – waren eingeschlossen vom Feuer und haben uns die ganze Zeit Hilferufe geschickt. Wir haben versucht, das der Feuerwehr zu kommunizieren, dass das Feuer immer näher kommt und Leute nicht mehr rausgekommen sind. Es hat die völlige Panik geherrscht.
Vor uns war eine Flammenwand, der Strom brach plötzlich zusammen, also man sah nichts mehr außer dem Feuer. Unglaubliche Rauchentwicklung und in der Mitte Minderjährige, die aus dem Lager für minderjährige Flüchtlinge rausgerannt sind und nicht wussten, wo sie hinsollen. Leute, die versuchten nach Mytilini zu kommen, wurden teilweise von der Polizei oder erbosten Dorfbewohnern aufgehalten. Andere Leute, die in die Olivenhaine liefen, wieder andere, die überhaupt nicht mehr rausgekommen sind, weil das Feuer überall gewütet hat.
Es war ein apokalyptisches Szenario, anders kann ich das nicht sagen
. Ich hab schon einiges in meinem Leben erlebt, aber das war schon was Besonderes.
Wie sieht die Situation heute aus?
Teile des Lagers sind komplett runtergebrannt. Die sehen aus, als hätte eine Atombombe eingeschlagen. Das ist nur noch Asche mit verbrannten Bäumen, die herausragen. Das Zentrallager stand noch teilweise in Flammen. Einige Gebiete waren weniger betroffen. Manche Gebiete haben auch noch ganz normal ausgesehen.
Ich würde spontan von meinem Eindruck sagen, dass etwa 40 Prozent aller Unterkünfte einfach verschwunden sind, andere sind natürlich in Mitleidenschaft gezogen worden durch die enorme Rauchentwicklung und alles. Eigentlich ist dieser Ort nicht mehr bewohnbar. Das hat auf einen Schlag Tausende Leute obdachlos gemacht, die jetzt irgendwo versuchen Unterschlupf zu finden. Es ist das komplette Chaos.
Es tagen jetzt irgendwelche Krisenstäbe. Nur, wie man jetzt innerhalb von 24 Stunden für all diese Menschen ein Dach oder zumindest ein Zelt über den Kopf, einen Schlafsack oder irgendwas organisiert – ich weiß es nicht. Ehrlich gestanden, weiß es niemand. Wir sind vernetzt mit vielen anderen Organisationen. Alle stehen nur da und wissen nicht weiter, was zu tun ist.
EU-Kommissarin Ylva Johansson hat angekündigt, dass die 400 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge im Lager schnellstmöglich aufs Festland gebracht werden sollen…
Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen ins Wort falle. Das hören wir seit März! Und seit März warnen wir, dass es nicht nur um ein paar Dutzend Kinder geht, sondern um Tausende Menschen, die hier auf griechischen Inseln abgeladen werden, die nicht wissen, wie mit dieser Situation umgehen. Für das zahlen ja genauso die Bewohner von Lesbos den Preis.
Also die Diskussion braucht jetzt nicht von Europa zu sein, ob 30 oder 40 oder 400. Hier geht es um die sofortige Evakuierung von Tausenden Menschen, die jetzt auch noch obdachlos sind. Es ist ein Witz, wenn die EU jetzt wieder mit ihren Dutzenden oder Hunderten Flüchtlingskindern anfängt.
Das wäre meine Frage gewesen: Was passiert mit den Tausenden Menschen jetzt und was soll die EU bzw. die Mitgliedsländer tun?
Meine Aussage ist eine ganz Einfache: Die Brandstifter dieses Brandes sitzen in Brüssel, Berlin, Wien und anderswo. Nicht hier! Und das wird hier seit Monaten in Griechenland, in Lesbos, von Flüchtlingen, von griechischen Bewohner, von NGOs kommuniziert: „Die Lage hier ist nicht tragbar“ und „Es wird zur Katastrophe kommen“. Man hat nicht zugehört. Die Katastrophe ist da.
Jetzt wäre es an der Zeit, zumindest die Verantwortung zu übernehmen, dass dieser Brand ein europäischer Brand ist. Wie ich allerdings Europa, Deutschland und Österreich kenne, wird das nicht geschehen. Sondern es werden die Menschen hier alleine gelassen werden, und es erwartet auch wieder jeder, alleine gelassen zu werden.
Offiziell gibt es keine Berichte über Verletzte oder Tote. Auf Twitter gibt es aber unbestätigte Meldungen und Tweets.
Es gibt sehr viele Gerüchte, wie immer in solchen Situationen, von Verletzten und Toten. Die Situation war so, dass es mich sehr wundern würde, wenn es keine Verletzten und auch keine Toten geben würde. Offiziell heißt es, es gebe das nicht und insofern kann man nur diese zwei Aussagen nebeneinander stellen und abwarten, was dann von offiziellen Stellen und medizinischen Organisationen im Camp nachgeliefert wird, dass es verifizierbar ist.
Wie sieht denn die Arbeit der NGOs momentan aus? Wird die Arbeit durch die Behörden behindert?
Insgesamt ist das Verhältnis zwischen griechischen Behörden und NGOs sehr gespannt, seit langer Zeit. Denn die griechischen Behörden und auch die Einwohner sagen, wegen der NGOs seien die Flüchtlinge hier und ohne sie würden sie nicht bleiben. Ich vermute, das wird jetzt eher noch gespannter werden.
Eigentlich ist es nicht die Aufgabe von NGOs, dass es in Flüchtlingslagern Müllentsorgung oder Wasser gibt – das ist eine staatliche Aufgabe. Da hat der griechische Staat, aber auch vor allem die EU versagt.
Sie haben es erwähnt: Auch das Verhältnis zwischen der Bevölkerung und Flüchtlingen ist angespannt. Bewohner haben Menschen den Zutritt zu Dörfern verweigert. Was haben Sie diesbezüglich beobachtet?
Das gibt es immer wieder. Gerade die Bewohner der umliegenden Orte sind „allergisch“ und wollen dieses Lager weghaben und haben auch einen hohen Preis gezahlt, das muss man fairerweise sagen. Diese Dörfer sind auch fruchtbarer Nährboden von rechtsradikaler Propaganda.
Generell ist es so, dass die große Mehrheit hier auf Lesbos nicht unbedingt flüchtlingsfreundlich ist, aber das irgendwie alles erträgt. Es gibt aber eben auch eine militante Minderheit, die sich organisiert und jede Gelegenheit für sehr hässliche Aktionen nutzt. Die hat es auch letzte Nacht gegeben.
Und natürlich werden die jetzt Aufwind haben. Die werden sagen: „Die Flüchtlinge haben das Lager angezündet“ und „Das wussten wir immer“. Da wird es jetzt einen enormen Aufschwung für die rechtsradikale Propaganda rund um die „Goldene Morgenröte“ [Anm.: Chrisi Avgi, neofaschistische Partei in Griechenland] geben und Konflikte weiter anheizen.
Wie geht es jetzt weiter? Für die Geflüchteten auf der Insel, für die NGOs und generell?
Für uns steht an, dass wir für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Lager Schlafsäcke organisieren, irgendeinen Platz zum Übernachten. Das sind wir ihnen erst einmal schuldig und es sind immerhin auch einige Dutzend. Wir werden versuchen irgendwie notdürftig etwas zu machen, was vermutlich nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist.
Wir sind auch pessimistisch, was die nächste Nacht betrifft. Es gibt nämlich im Lager auch gut organisierte kriminelle Elemente, die das ausnutzen werden zum Plündern. Das wissen alle. Das wissen auch die Politiker in Europa und sie haben nichts getan.
Die Situation wird meiner Ansicht nach in den nächsten Tagen eher noch eskalieren. Da gibt es dann nicht nur die humanitäre Notsituation der Menschen, die keine Unterkunft mehr haben, sondern dann steht die Sicherheit der ganzen Insel auf dem Spiel.
Veröffentlicht am 9. September 2023 auf fm4.ORF.at und als Beitrag in FM4 Connected