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Ein X im Reisepass

Alex Jürgen ist intergeschlechtlich und will das als erster Mensch in Österreich in seinen amtlichen Dokumenten vermerkt haben. Beim Standesamt blitzte er mit seiner Forderung ab. Jetzt soll ein Gericht entscheiden – ein Präzedenzfall.

In diesem Artikel wird für den intergeschlechtlichen Menschen Alex Jürgen das männliche Pronomen verwendet.

Gleich zu Beginn des Gesprächs mit Alex trete ich – nicht zum ersten Mal in meiner journalistischen Laufbahn – in ein Fettnäpfchen. Ich beginne, Alex Fragen über seine „Intersexualität“ zu stellen. Bis er mich korrigiert: „Das Wort ist aber nicht wirklich richtig.“ Kurz stutze ich, habe ich doch bisher immer diesen Ausdruck verwendet, wenn es um das Thema ging.
Ja, sogar die vermeintlich allwissende Wikipedia spricht von Intersexualität!

Alex aber sieht das anders. „Meine Sexualität habe ich entdeckt“, sagt Alex lachend. „Ich sage inzwischen nur mehr inter- oder zwischengeschlechtlich. Die Sexualität habe ich im Bett“, bekomme ich erklärt. Klingt einleuchtend.

Foto: Polyfilm

Identitätssuche mit Hürden

Alex ist also zwischengeschlechtlich – nicht Mann, nicht Frau, sondern eben dazwischen. So fühlt Alex sich auch. Geboren wurde er mit nicht eindeutigen Geschlechtsmerkmalen. Die Hoden hatten sich zu den Leisten verkrochen, „als wollten sie sich bereits da vor den Messern der Ärzte verstecken“, schreibt Alex auf seiner Webseite. Im Laufe seiner Jugend wurden sein nicht-normativer Penis und die innenliegenden Hoden entfernt, und weitere, zB hormonelle „Maßnahmen“ gesetzt, um ihn fortan als Frau leben zu lassen.

„Es wird den Eltern halt gesagt, sie sollen ihr Kind so erziehen, wie sie es ausgewählt haben“, sagt Alex. Das sei eine komplett falsche Herangehensweise. Seine Eltern erfanden immer neue Geschichten, um seine Krankenhausaufenthalte zu rechtfertigen. „Ich hab jahrelang das Gefühl gehabt, ich sei eine Missgeburt. In der Zeit, in der man mir nichts gesagt hat, hab ich immer geglaubt, ich wäre sterbenskrank“, beschreibt er die induzierte Übergangsphase von Mann zu Frau in seiner Kindheit und Jugend.

„Dir wird irgendetwas erzählt und du weißt aber, dass etwas nicht stimmt.“ Wie bei den meisten zwischengeschlechtlichen Menschen, hätten Ärzte aus ihm einen „medizinischen Notfall“ gemacht. „Es wäre sicher anders abgelaufen, wenn die Ärzte nicht ihre Skalpelle an mir ausprobiert hätten und man mich anders erzogen hätte,“ sagt Alex. „Das, was weggeschnitten worden ist, ist weg – auf ewig. Da geht’s um sensible Nerven, die ich gehabt habe. Die sind weg.“

Alex Jürgen als Kind

„Inter, anders oder ‚X‘ – in absteigender Reihenfolge“

In seinen Dokumenten stand zunächst also lange „weiblich“. Seit einiger Zeit ist er als „männlich“ ausgewiesen. Doch das soll sich jetzt ändern. Im Mai hat Alex gemeinsam mit dem Anwalt Helmut Graupner den Versuch gestartet, sein Geschlecht in Geburtsurkunde, Personenregister und Reisepass entsprechend zu ändern. Für Geburtsurkunde und Personenregister ist das Standesamt zuständig, für den Reisepass die Bezirkshauptmannschaft.

Aber was soll statt „männlich“ in seinem Pass stehen? „Wir haben in absteigender Reihenfolge beantragt: ‚inter‘, ‚anders‘ oder ‚X'“, sagt Alex. Während die Entscheidung bei der BH für den Reisepass noch ausständig ist, hat das Standesamt Alex bereits geantwortet: Sein Antrag wurde abgelehnt. Doch Alex und Helmut Graupner haben Einspruch erhoben und somit landet der Fall vor dem oberösterreichischen Verwaltungsgerichtshof und wird somit zum Präzedenzfall für die österreichische Justiz.

Mögliches Schlupfloch im Personenregister

„Ist es ein Bub oder ein Mäderl?“, wird in der Regel gleich nach der Geburt gefragt. Spätestens eine Woche später will das auch das Standesamt wissen, wo das Geschlecht des Kindes dann auch in das Personenregister eingetragen wird. In einem Gespräch mit ORF.at erklärt die Juristin Eva Matt, dass nach dem Personenstandsgesetz die Frage des Geschlechts beantwortet werden müsse. Kann das aus medizinischen Gründen nicht gleich passieren, werde immer wieder nachgefragt, bis diese Frage beantwortet sei.

Seit November 2014 gibt es in Österreich das Zentrale Personenstandsregister (ZPR), das Daten über Geburt, Ehe und Tod beinhaltet und die Personenstandsbücher abgelöst hat. In der nun vereinheitlichten Software des ZPR könnte es ein Schlupfloch für Personen geben, die sich nicht den Geschlechtern „männlich“ oder „weiblich“ zugehörig fühlen.

„Wir haben entdeckt, dass in diesen Formularen [bei „Geschlecht“] einfach ein leeres Feld steht“, sagt Rechtsexpertin Matt, die sich auch bei der Plattform Intersex Österreich engagiert. „Es gibt kein Kasterl, in dem man ankreuzen muss ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘. Es handelt sich dabei einfach um ein freies Feld.“ Somit könnte es also bereits möglich sein, ins Personenregister ein abweichendes Geschlecht einzutragen. Und auch beim Reisepass sollte das kein allzu großes Problem sein, glaubt Matt.

„Wir stützen unsere Forderungen auch darauf, dass in der EU eine Richtlinie bei den Fluggastdaten verwendet wird, in der die Eintragungsmöglichkeiten M, F und X vorgesehen sind. Es gibt also schon eine Grundlage dafür, dass es auch im Pass möglich ist“, erklärt die Juristin. Alex Jürgen hätte somit eine realistische Chance, der erste Mensch in Österreich zu sein, der ein X in seinem Reisepass bei Geschlecht stehen hat. Lästige und peinliche Fragen am Flughafensicherheitscheck könnten damit auch der Vergangenheit angehören.

Warum erst jetzt?

Alex weiß schon lange, dass er ein intergeschlechtlicher Mensch ist. Und egal ob wir es von Justin Trudeau, Christian Kern oder sonst wem hören: Ja, wir haben 2016. Warum also hat sich Alex erst jetzt dazu entschieden, einzufordern, dass das Geschlecht, dem er sich zugehörig fühlt, in seine Dokumente einzutragen? Das habe mehrere Gründe.

„Einer davon ist, dass wir Inter*-Organisationen schon lange versuchen, dass diese Operationen an Kindern aufhören“, erklärt Alex. Denn wer nicht weiblich oder männlich geboren wird, wird in Österreich in der Regel dazu gemacht. Alex hat es selbst erfahren.

Ein weiterer Grund sei seine Leukämieerkrankung vor ein paar Jahren. „Ich kämpfe immer noch mit Spätfolgen und ein Krankenhausaufenthalt ist sehr wahrscheinlich“, erklärt er. Um peinliche Situationen – egal, ob nun für ihn oder andere Patienten – zu vermeiden, möchte er dezidiert als intergeschlechtlich gelten. Offiziell als „Mann“ mit einer „künstlichen Vagina“ sich mit einem anderen Mann das Zimmer zu teilen, wäre ebenso seltsam, wie sich mit einer Frau das Zimmer zu teilen, und dann als „Herr“ angesprochen zu werden.

Der eigentliche Grund, warum Alex nicht früher als erste Person in Österreich diesen Schritt gewagt hat, ist, dass er jetzt wohl die einzige Inter*-Person ist, die sich traut. „Es gibt keinen Raum in der Gesellschaft für uns. Die Leute verstecken sich“, sagt Alex.

In nur drei europäischen Ländern können intergeschlechtliche Menschen ihr Geschlecht in Dokumenten angeben: Deutschland, Dänemark und Malta.

„Ich kenne genug Inter*-Personen, in Österreich und international. Die allermeisten sind schwer traumatisiert aufgrund der Behandlungen und Operationen. Ich kenne Lehrerinnen, die dem weiblichen Geschlecht zugeordnet worden sind. Alle sind sehr bedacht darauf, dass das nicht öffentlich wird, um Mobbing, Diskriminierung und Spott aus dem Weg zu gehen.“ Denn das größte Problem sei laut Alex, dass man immer sofort darüber nachdenke, „was die Person in der Hose hat, aber nicht mehr, wer die Person ist.“

Bis Anfang November hat die Bezirkshauptmannschaft noch Zeit, Alex Bescheid zu geben, ob er nun ein X im Reisepass haben darf, oder nicht.


Erschienen am 22. Juni 2016 auf fm4.ORF.at